Sich auf der inneren Reise verlieren: Existenzielle Krise oder spirituelles Erwachen?
- Feroz Anka
- vor 4 Tagen
- 6 Min. Lesezeit
Manchmal fragt ein Mensch nicht nur: „Wohin geht dieses Leben?“
Ab einem gewissen Punkt taucht eine gefährlichere Frage auf:
„Wo habe ich mich selbst verloren?“
Das, was wir „innere Reise“ nennen, wirkt von außen romantisch.
Kerzenlicht, Slogans, Geschichten vom spirituellen Erwachen, Aphorismen darüber, sich „selbst zu finden“…
In Wirklichkeit beginnt es meist nicht so.
In Wirklichkeit beginnt es oft mit einem Sich-Verlieren.
Eine Schwere, für die du keinen Namen hast.
Sätze, die ihren Sinn verloren haben.
Ein Zustand, nirgendwo wirklich dazuzugehören.
Ist das, was du erlebst, eine existenzielle Krise – oder sind es die ersten Anzeichen jenes Bruchs, den du später vielleicht „spirituelles Erwachen“ nennen wirst?
Und der Weg, den ich in Linien der Leere gehe, flüstert mir zu, dass die beiden gar nicht so weit voneinander entfernt sind.
Die innere Reise beginnt oft wie ein Zusammenbruch.
Es kommt eine Zeit, in der nichts mehr so funktioniert wie früher.
Du gehst in denselben Job, sprichst mit denselben Menschen, lebst in derselben Stadt…
Aber innerlich ist etwas aus seiner Position gerückt.
Die Bedeutungen, die dich früher getragen haben, können dich nicht mehr halten.
Die Frage „Warum mache ich das?“ ist nicht mehr eine kleine Neugier, die dir einmal durch den Kopf schießt; sie liegt wie ein schwerer Stein mitten in deiner Brust.
Die innere Reise beginnt oft genau so:
Von außen betrachtet ist „alles normal“, aber innen ist nichts in Ordnung.
Manchmal nennt man das Depression.
Manchmal Sinnkrise.
Manchmal sagst du: „Mein Leben zerfällt“, manchmal: „Ich habe meine Seele verloren.“
Linien der Leere habe ich genau an so einer Schwelle geschrieben.
Während mein Leben von außen den Eindruck machte, „alles läuft gut“, hatte innerlich längst jemand den Abbrechen-Knopf gedrückt.
Existenzielle Krise: der letzte Widerstand deines alten Selbst.
Das, was wir existenzielle Krise nennen, ist nicht einfach „schlechte Laune“.
Eine tiefer gehende Frage brennt in dir:
„Was bedeutet dieses Leben eigentlich wirklich?
Und an welcher Stelle dieses Spiels stehe ich?“
Dinge, an die du früher auswendig geglaubt hast, werden auf einmal in Frage gestellt.
Beziehungen, Arbeit, Glaube, Erfolg, sogar deine Vorstellungen von Gut und Böse…
Du fühlst dich, als wärst du an den Rand deines eigenen Lebens gedrängt.
Als würde auf der Bühne ein Stück gespielt; dein Name steht auf dem Plakat, aber du sitzt hinter der Bühne und weißt nicht mehr, was du spielst und warum.
Eine existenzielle Krise flüstert oft Folgendes:
„So kann ich nicht weitermachen. Aber ich weiß auch nicht, wie ich weitermachen soll.“
Genau dieser Zwischenraum ist es, der den Menschen am meisten fordert, am meisten zart macht, am meisten wachsen lässt.
Spirituelle Erwachensgeschichten erzählen meist nur das Danach:
Reinigung, Frieden, Stille, Hingabe…
Doch vorher muss etwas zerbrechen.
Und von außen sieht dieser Bruch oft einfach wie ein „Zusammenbruch“ aus.
Spirituelles Erwachen: kein Licht, sondern die Dunkelheit, die zuerst kommt.
Wenn wir „spirituelles Erwachen“ hören, produziert unser Geist meist lichtvolle Bilder.
In meiner Erfahrung führt Erwachen jedoch zuerst durch einen dunklen Raum.
Einige Sätze, auf die du dein ganzes Leben gebaut hast, beginnen zu reißen:
„So bin ich nun einmal.“
„Das Leben muss so sein.“
„Ohne das kann ich nicht leben.“
Während diese Sätze zusammenfallen, wächst in dir vor allem ein Gefühl:
„Wer bin ich dann überhaupt?“
Diese Frage ist das gemeinsame Zentrum sowohl der existenziellen Krise als auch des spirituellen Erwachens.
Manchmal steckst du tatsächlich mitten in einer Depression; deine Energie ist weg, du hast dich aus dem Leben zurückgezogen, du willst nichts tun.
Manchmal sind dieselben Symptome auch ein Vorbote einer tieferen spirituellen Suche.
Eines der Dinge, die ich in Linien der Leere zu erzählen versuchte, war dies:
Nicht jede dunkle Phase muss in ein Erwachen münden.
Aber die meisten Erwachensprozesse kommen nicht ohne Dunkelheit.
Du verlierst etwas.
Einen Glauben, eine Rolle, einen Menschen, eine Identität…
Von außen ist das einfach ein „Verlust“.
Von innen fühlt es sich manchmal so an:
Du wirst langsam aus deinem alten Körper herausgehoben.
Sinnkrise: Der alte Sinn ist gestorben, der neue ist noch nicht geboren.
Eine Sinnkrise ist, als wärst du zwischen zwei Welten eingeklemmt.
Deine alte Bedeutungs-Landkarte funktioniert nicht mehr.
Die Gleichung „Guter Job, gute Beziehung, eine gewisse Ordnung = gutes Leben“ reicht dir nicht mehr.
Aber du hast noch keine neue Gleichung, die du an ihre Stelle setzen könntest.
In dieser Zwischenzeit begegnest du einer deiner größten Ängste:
Der Leere.
Leere fühlt sich oft wie „Nichts“ an.
Als wäre alles umsonst gewesen, als hätte nichts mehr Bedeutung.
Dabei kommen manche Leerstellen genau deshalb, um den Platz der alten Bedeutungen frei zu räumen.
Neuer Sinn möchte in dieser Leere keimen.
Als ich Linien der Leere schrieb, versuchte ich, diese Leere nicht länger nur als „Zerstörung“ zu sehen.
Vielleicht war sie eine Einladung:
„Willkommen auf der Beerdigung deiner alten Bedeutungen.
Bist du bereit, jetzt nach Bedeutungen zu suchen, die wirklich dir gehören?“
Die innere Reise beginnt genau an diesem Punkt.
In dem Moment, in dem du bereit bist, die Bedeutungen loszulassen, die andere für dich ausgewählt haben, und deinen eigenen Sinn, deine eigene Stimme, deinen eigenen Weg zu suchen.
Spirituelle Suche oder Flucht vor dem Schmerz?
Hier gibt es eine gefährliche Zone.
In der existenziellen Krise hält ein Mensch den Schmerz oft kaum aus.
Und das ist zutiefst menschlich.
Genau an dieser Stelle treten manche „spirituellen Wege“ auf den Plan.
Die Worte sind schön, die Sätze weich, das Versprechen sehr verlockend:
Sie bieten an, den Schmerz mit einem feinen Lichtschleier zu überdecken.
„Alles ist ohnehin perfekt.“
„Schmerz ist nur eine Illusion.“
„Heb einfach dein Bewusstsein an, der Rest wird folgen.“
Doch manchmal ist Schmerz nichts, was man nur „überspielen“ sollte.
Manchmal ist das Durchgehen durch diesen Schmerz das Erwachen selbst.
Wenn deine spirituelle Suche zur Flucht vor dem Schmerz wird, hast du dir nur eine neue Maske aufgesetzt.
Einer Depression einen glänzenden spirituellen Lack zu verpassen, heilt sie nicht.
Es macht sie nur unsichtbar.
Für mich begann Erwachen nicht damit, dem Schmerz zu entkommen, sondern ihm ehrlich ins Gesicht zu sehen.
„Ja, im Moment fühle ich mich sehr schlecht.
Ja, es fühlt sich an, als würde alles auseinanderfallen.
Ja, ich weiß nicht, was ich tue.“
Dort, wo ich diese Sätze sagen konnte, begann leise etwas Neues zu keimen:
Ein Zustand, mir selbst gegenüber echt zu sein.
Die innere Reise: ein Weg, den man nicht mit Härte gegen sich selbst, sondern mit Mitgefühl geht.
Wenn du dich auf die innere Reise machst, kann dein Geist manchmal härter mit dir sein als jeder andere.
„Wenn du so viel hinterfragst, bist du schwach.“
„Wenn du da nicht rauskommst, hast du dich nicht entwickelt.“
„Wenn du so viele Schmerzen hast, bist du wohl nicht bewusst genug.“
In Wirklichkeit ist es Mut, Fragen stellen zu können.
Es ist Mut, dir selbst ins Gesicht sehen zu können.
Schon zuzugeben, dass du eine existenzielle Krise erlebst, ist ein Schritt über eine Schwelle, die die meisten Menschen nie überschreiten.
Die innere Reise schreitet nicht voran, indem du dich stärker verurteilst, sondern indem du dich ehrlicher und mit mehr Barmherzigkeit anschaust.
Manchmal brauchst du auf diesem Weg auch professionelle Unterstützung:
Eine Therapeutin, einen Berater, eine Vertrauensperson als Begleitung…
Das bedeutet nicht, dass du „spirituell schwach“ bist.
Im Gegenteil: Es bedeutet, dass du menschlich genug bist, um sagen zu können: „Ich muss diese Last nicht alleine tragen.“
Existenzielle Krise oder spirituelles Erwachen?
Vielleicht beides, vielleicht beides gleichzeitig.
Ich sehe diese Trennung nicht mehr als so scharf.
Die existenzielle Krise ist manchmal der Schrei deiner Seele: „So kann ich nicht weitermachen.“
Das spirituelle Erwachen ist die Geburt einer neuen Stimme in der langen Stille nach diesem Schrei.
Die Krise entfremdet dich von deinem alten Selbst.
Das Erwachen bringt dich deinem noch unbekannten Selbst näher.
Beides können verschiedene Türen im selben Korridor sein.
Welche du durchschritten hast, erkennst du oft erst, wenn du zurückblickst.
Linien der Leere war für mich ein Text, der genau in diesem Korridor geschrieben wurde.
Ich wollte weder nur die Dunkelheit beschreiben noch eine falsche Lichtgeschichte erfinden.
Ich wollte nur Folgendes sagen:
„Wenn du dich verloren fühlst, könnte deine innere Reise bereits begonnen haben.
Dieses Unglücklichsein, diese Sinnkrise, hat vielleicht eine Einladung:
Die Einladung, dich selbst aus der Nähe anzuschauen.“
Sich verloren zu fühlen, ist nicht immer eine schlechte Nachricht.
Ich schreibe diesen Text nicht, um zu sagen: „In jeder Krise steckt garantiert ein großartiges Erwachen.“
Das Leben lässt sich nicht in so einfache Formeln pressen.
Aber eines sage ich ohne Zögern:
Die innere Reise beginnt oft genau dort, wo du denkst: „Ich bin auf dem falschen Weg.“
Das, was du existenzielle Krise nennst, ist manchmal die Art, wie deine Seele dich anstößt.
Spirituelle Suche beginnt manchmal leise an dem Punkt, an dem du sagst: „Ich glaube an gar nichts mehr.“
Wenn du dich seit einiger Zeit nirgendwo wirklich zugehörig fühlst, wenn dir dein Leben sinnlos erscheint, wenn du dich tagsüber immer wieder an dem Satz „Was mache ich hier eigentlich?“ festhängst…
Dann ist das vielleicht nicht nur ein Zusammenbruch.
Es könnte auch das Quietschen jener Tür sein, die dich zu einem „Du“ ruft, das du bisher nie kennengelernt hast.
Die innere Reise mag von außen nicht glänzend aussehen.
Aber vielleicht wirst du eines Tages zurückblicken und über die Zeit, die du für die dunkelste hieltest, sagen:
„Dort habe ich mich nicht verloren.
Dort habe ich mich zum ersten Mal auf den Weg zu mir selbst gemacht.“






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