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Die Götter in Rente schicken: Der moderne Mensch und seine Fixierung auf Geld und Zeit

  • Autorenbild: Feroz Anka
    Feroz Anka
  • vor 4 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit

Stellen wir uns einmal eine Welt vor, in der Geld und Zeit nicht heilig sind.

Denn ich muss etwas bekennen:

Lange Zeit meines Lebens habe auch ich die Götter am falschen Ort gesucht.

Nicht am Himmel, nicht in Büchern, nicht in Ritualen;

ich fand sie in Banking-Apps, Kalenderbenachrichtigungen und Bildschirmen voller Erfolgsgrafiken.

Und eines Tages merkte ich:

Die Götter des modernen Menschen leuchten nicht mehr in Tempeln, sondern im Licht unserer Bildschirme.

Deshalb müssen diese Götter in Rente geschickt werden, denn der moderne Mensch ist zutiefst fixiert auf Geld und Zeit.


Die Figur, die wir „modernen Menschen“ nennen, ist kein theoretisches Konzept.

Dieser Mensch bin ich.

Höchstwahrscheinlich bist du es.

Und alle, die du kennst.

Derjenige, der morgens beim Aufwachen die Hand nicht ans Herz, sondern ans Handy legt;

derjenige, der sich nicht zuerst fragt: „Was fühle ich heute?“, sondern: „Wieviel Arbeit habe ich heute?“

Jemand, dessen erster Reflex keine innere Bestandsaufnahme ist, sondern die Unterwerfung unter die Forderungen der Außenwelt.

Noch bevor er aus dem Bett aufsteht, melden sich zwei Götter zur Anwesenheitskontrolle:

Geld und Zeit.

„Wieviel habe ich verdient, wieviel muss ich noch verdienen?“

„Wie sehr bin ich zu spät dran, wie weit liege ich zurück?“

Keine dieser Fragen nennen wir laut „Gebet“ oder „Anbetung“.

Aber der Rhythmus, der in uns schlägt, ähnelt genau dem.

Wie ein unsichtbares Mantra, das wir dutzende Male am Tag wiederholen.

In diesem kleinen Heiligtum, das wir in unserem Kopf errichtet haben, sitzen die Götter längst auf ihren Plätzen:

Der eine ist die Uhr, der andere der Kontostand, und der dritte ist dieses vage, aber gnadenlose Maß namens „Erfolg“.

Geld und Zeit verhalten sich wie Herren, die aufgehört haben, Werkzeuge zu sein.

Geld ist nicht schlecht.

Zeit auch nicht.

Wenn beide an ihrem Platz bleiben, sind sie zwei völlig harmlose Wörter.

Aber der moderne Mensch benutzt diese beiden Wörter nicht mehr nur als Werkzeuge.

Er macht sie zum Maß seines eigenen Wertes.

Die Frage „Wieviel Zeit hast du?“ wird zur Frage „Wieviel bist du wert?“

Die Frage „Wieviel verdienst du?“ wird zur Frage „Wieviel Respekt hast du verdient?“

So werden Geld und Zeit von Mitteln zur Ordnung der äußeren Welt zu Waagen, auf denen wir unsere innere Welt wiegen.

Und das Ergebnis?

Zeit, die nie reicht, Geld, das nie genügt, und ein Selbst, das zwischen diesen beiden Achsen eingeklemmt ist und sich ständig schuldig und im Rückstand mit sich selbst fühlt.


Genau hier entsteht ein unsichtbarer Erfolgsdruck.

Erfolg bedeutet nicht mehr nur, etwas „zu tun“; er bedeutet, sich das Recht auf Existenz zu beweisen.

Aus diesem Druck sind unser Erfolgszwang und unsere unsichtbaren Rituale der Anbetung entstanden.

Erfolg war früher ein Ergebnis.

Heute ist er eine Identität.

Die Frage „Was machst du?“ klingt vielleicht freundlich, aber ihr Untertext lautet oft:

„Wo versteckt sich dein Wert?“

Der moderne Mensch fühlt sich gezwungen, diese Frage jeden Tag neu zu beantworten.

Und diese Antwort wird immer mehr zu Zahlen:

Abgeschlossene Projekte, steigende Diagramme, Follower-Zahlen, Häkchen der Bestätigung…

All das steht wie kleine Striche im Buch, das unsere unsichtbaren Götter in uns führen.

Vielleicht sagen wir uns nicht wörtlich:

„Heute bin ich vor den Gott des Erfolgs getreten.“

Aber was wir tun, ist oft gar nicht so anders:

Am Ende des Tages richten wir über uns selbst in einem inneren Gerichtssaal.

Wie produktiv war ich?

Wie viel habe ich geleistet?

Was habe ich getan, um mir diesen Tag zu verdienen?

Und in jeder Nacht, in der wir diese Rechnung nicht schließen können, wächst in uns ein kleines Stück Burnout weiter.

Burnout: die Müdigkeit des Dieners, der mit seinen Göttern nicht Schritt halten kann.

Das Burnout-Syndrom erklären wir meist mit zu viel Arbeit.

Doch oft geht es nicht nur ums Viel-Arbeiten, sondern um die existentielle Angst, die sich hinter der Arbeit versteckt.

Wenn Erfolg zum Maß deines „Rechts auf Existenz“ geworden ist, fühlst du dich an jedem Tag, an dem du nicht erfolgreich bist, ein Stück mehr verschwinden.

Wenn Geld das Einzige geworden ist, was dir Sicherheit gibt, scheint jedes Konto im Minus nicht nur deinen Kontostand, sondern auch dein Wertgefühl auf Null zu setzen.

Wenn Zeit nicht mehr „ein Raum, um dir selbst zu begegnen“ ist, sondern sich in „eine Liste von Dingen, die du schaffen musst“ verwandelt hat, wird jede Minute zu einer Gerichtsuhr, die gegen dich tickt.

Burnout ist oft nicht nur die Müdigkeit vom Viel-Arbeiten; es ist die Scham darüber, dass du den Werten, die du zu Göttern gemacht hast, nicht gerecht wirst.


Genau mit dieser Scham wurde ich konfrontiert, als ich Linien der Leere schrieb.

Ich musste mich fragen:

Woran glaube ich wirklich?

Und wen bete ich in Wahrheit an?


In diesem Titel habe ich ganz bewusst gesagt, wir müssten die Götter „in Rente schicken“.

Denn Geld, Zeit und Erfolg müssen nicht getötet werden.

Wir brauchen sie.

Geld ist immer noch ein Tauschmittel.

Zeit erlaubt uns immer noch, die Unendlichkeit in Ausschnitten zu erfahren.

Erfolg ist immer noch eine Frucht von etwas, das natürliche Ergebnis von Mühe.

Das Problem liegt nicht in ihrer Existenz, sondern darin, wem der Thron gehört.

Die Götter in Rente zu schicken, heißt nicht zu sagen: „Ich will kein Geld mehr, ich brauche keine Zeit mehr.“

Es heißt: „Du wirst nicht meinen Wert messen. Du bist ein Werkzeug, kein Herr.“

Es bedeutet, dass du, wenn du auf dein Konto schaust, nicht dich selbst, sondern einfach eine Zahl siehst.

Dass du, wenn du in deinen Kalender schaust, dein Leben nicht als verspätet siehst, sondern als Summe der Momente, die du gewählt oder nicht gewählt hast.

Dass du, wenn du auf den Erfolg schaust, statt „Das bin ich“ sagen zu müssen, sagen kannst: „Das ist nur eines von vielen Dingen, die ich getan habe.“

Die Götter in Rente zu schicken heißt nicht, ihre Namen zu löschen; es heißt, deinen eigenen Namen unter ihnen wieder hervorzuholen.

Die Falle der persönlichen Entwicklung: neue Götter, alte Ängste

An dieser Stelle muss ich auch das sagen:

Die heutige Welt der persönlichen Weiterentwicklung verpackt die alten Götter oft nur neu und ersetzt sie durch andere.

Produziere mehr, sei effizienter, sei bewusster, schwinge höher, manifestiere besser, werde ein besseres „Du“…

Die Slogans ändern sich, aber der Druck bleibt derselbe: So wie du bist, bist du nicht genug.

Persönlichkeitsentwicklung wird manchmal weniger zu einer inneren Reise als zu einer neuen Firma, die du auf dir selbst gründest.

Dort bist du Chef, Arbeiter und Kontrolleur zugleich.

Und du hast keine Pause.

Als ich Linien der Leere schrieb, habe ich auch diese Sprache hinterfragt.

Ich musste das Wort „Entwicklung“ neu betrachten.

Vielleicht liegt wahre Entwicklung nicht darin, immer mehr hinzuzufügen, sondern darin, die falschen Götter nach und nach in Rente zu schicken.


Wenn ich manchmal Sätze formuliere, die den modernen Menschen kritisieren, vergesse ich nie:

Dieser Mensch bin vor allem ich selbst.

Auch ich habe Geld mit zu viel Bedeutung aufgeladen.

Auch ich habe Zeit nur als Liste von Dingen gesehen, die es zu erledigen gilt.

Auch ich habe Erfolg wie einen Verband über mein inneres Gefühl der Wertlosigkeit gelegt.

Die Götter in Rente zu schicken war kein revolutionärer Entschluss, den ich an einem einzigen Tag gefasst habe.

Es ist ein Prozess, der noch andauert.

An jedem neuen Tag versuche ich, diese Stimme in mir wieder zu hören:

„Das sind nicht deine Herren. Das sind die Werkzeuge in deinen Händen. Du bist nicht die Summe dieser Werkzeuge.“

Wenn du dich beim Lesen dieser Zeilen ertappst – wie du dutzende Male am Tag auf die Uhr schaust, dein Konto checkst, das „Erfolgsbild“ in den Augen anderer zurechtlegst…

Dann wisse: Du bist nicht allein.

Das ist nicht die Wunde eines Einzelnen, sondern die Wunde einer Epoche.


Dieser Text wurde nicht geschrieben, um dir zu sagen: „Geld ist unwichtig, Zeit ist überflüssig, Erfolg ist Blödsinn.“

So eine billige Romantik wäre der Wahrheit gegenüber unfair.

Ich schlage nur Folgendes vor:

Vielleicht ist es an der Zeit, die Götter in uns in Rente zu schicken und uns damit zufriedenzugeben, einfach Mensch zu sein.

Wenn Geld und Zeit an ihre Plätze zurückkehren – also wieder zu Werkzeugen werden – und wenn der Erfolg vom Thron steigt, setzt sich etwas Einfacheres an seine Stelle:

Der Zustand, Mensch zu sein.

Unvollständig, verletzlich, ängstlich, suchend und letztlich nicht der „Herr“ selbst, sondern ein Herz, das versucht, sich selbst Zeugnis zu geben.

Wenn du eines Tages, während du auf dein Konto, in deinen Kalender oder auf deine Projekte schaust, dir selbst die Frage stellst:

„Wer bin ich jenseits von all dem?“

Dann hast du an diesem Tag begonnen, deine Götter leise und ohne sie zu töten in Rente zu schicken.


Und vielleicht beginnt genau dort wahre persönliche Entwicklung.


ree

 
 
 

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